DER STAAT
Mariana Mazzucato & Rainer Kattel in der FAS: "Der Staat muss besser werden"
In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung plädieren Mariana Mazzucato und Rainer Kattel nicht für mehr oder weniger Staat, sondern für einen besseren.
VON
MARC ADAMVERÖFFENTLICHT
27. NOVEMBER 2020LESEDAUER
5 MIN.Die ÖkonomInnen vom Institute for Innovation and Public Purpose (IIPP) am University College London argumentieren in ihrem Gastbeitrag für die FAS, dass der deutsche Staat innovativer werden muss, wenn wir die kommenden Krisen bewältigen wollen. Der Grundgedanke für das neue industriepolitische Rahmenwerk ist eine missionsorientierte Wirtschaftspolitik. Der Gastbeitrag beruht auf einer für das Forum New Economy erarbeiteten Studie.
„Der Staat muss besser werden“
Deutschland braucht nicht mehr oder weniger Staat. Sondern einen innovativeren.
Während manche den Klimawandel noch leugnen, steht die Bundesregierung in diesem Jahr ganz vorn. Zumindest damit, in der Covid-19-Krise die Konjunktur zu stabilisieren und gleichzeitig in den Aufbau einer grüneren, gerechteren und stärker digitalisierten Wirtschaft zu investieren. Deutschland setzt damit eine Abkehr von einem stärker ordoliberalen Verständnis fort, wonach der Staat nur dafür da ist, die Spielregeln zu bestimmen – und alles andere der freien Wirtschaft zu überlassen. Beispiele wie die „Industriestrategie 2030“ und die „Hightech- Strategie 2025“ zeugen davon, dass Politiker wie Wirtschaftsminister Peter Altmaier bereits vor der Pandemie dazu neigten, über das schlichte Korrigieren gelegentlichen Marktversagens hinauszugehen und damit zu experimentieren, den Staat offener aktiv werden zu lassen. Die Frage ist, ob dies so richtig und gut umgesetzt ist.
Deutschlands Politik war auch früher nie so prinzipientreu, wie es die offizielle Erzählung vermuten lässt. Wie der Historiker Werner Abelshauser argumentiert, beruhte der deutsche Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich auf einer „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“. Der Staat unterstützte Forschungs-, Entwicklungs- und Bildungseinrichtungen, die sich um die wichtigsten Industriezentren ansiedelten. Die deutsche Energiewende wurde durch öffentliche Ausgaben der Entwicklungsbank KfW vorangetrieben, deren Investitionen in eine grüne Transformation der Wirtschaft allein von 2000 bis 2016 um fast das Sechsfache auf 26 Milliarden Euro stiegen. Dabei gab die KfW besonders günstig Kredite für Investitionen, die etwa dazu dienten, zur Klimaschonung den Materialaufwand im Stahlsektor zu reduzieren – was geholfen hat, die deutsche Stahlindustrie zu einer der wettbewerbsfähigsten der Welt zu machen.
Dass es hier um Industriepolitik geht, die eher unter dem Radar fliegt, spiegelt sich in dem nach wie vor zaghaften Charakter der Industriestrategie 2030 und der Hightech-Strategie 2025.
Um heute voranzukommen, wäre es aber wichtig, eine solche Industriepolitik auch auszuformulieren. Wie Plato sagte: Geschichtenerzähler beherrschen die Welt. Was also ist diese Geschichte? Es geht nicht um die ewige Frage nach „mehr Staat“ oder „weniger Staat“, sondern um ein neues, innovativeres Staatsverständnis. Es geht um einen Staat, der in begründeten Fällen auch einmal richtungsweisende Investitionen anstößt und damit eine neue Art von Wachstum und Wohlfahrt, die nachhaltiger ist – und der private (Folge-)Investitionen attraktiv macht. Dies erfordert eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Staat und Privatwirtschaft, bei der es mehr darum geht, die Willigen mitzunehmen, als sich vorschnell auf Gewinner festzulegen.
Dabei geht es nicht nur um den Klimawandel.Einer der politischen Eckpfeiler der „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“ war einst das Versprechen, dass übermäßige Einkommensungleichheit durch staatliche Transfers ausgeglichen. wird. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass die Ungleichheit in Deutschland trotz zunehmender staatlicher Transfers nicht schwindet. Gabriel Palma von der Cambridge University zeigt das anhand eines Vergleichs zwischen Deutschland und Südkorea. Um eine relativ akzeptable Verteilung der verfügbaren Einkommen zu erreichen, muss Deutschland angesichts einer hohen Ungleichheit vor Steuern sehr viel mehr umverteilen als Korea. Dort braucht es weit weniger Eingriffe, weil die Einkommen von vornherein weniger ungleich verteilt sind. Es gibt einen Bruch zwischen industriellem und sozialem Fortschritt in Deutschland. Auch hier liegt eine Herausforderung.
In einer vor Kurzem erschienenen Studie für das „Forum New Economy“ zeigen wir, dass sich Deutschland allmählich in eine Art Kapitalismus entwickelt, der eher bereits geschaffene Werte nutzt, als dass er neue schafft. Während 1970 mehr als ein Drittel der deutschen Bankkredite für reale Investitionen an die Industrie ging, ist dieser Anteil bis 2020 auf weniger als zehn Prozent gesunken. Die Finanzwirtschaft fördert zunehmend nichtproduktive Investitionen, sie wird dominiert von spekulativen Reflexen, die risikoarme und kurzfristige Gewinne bevorzugen.
Dazu kommt, dass heute etliche Unternehmensanleihen von der Europäischen Zentralbank – und de facto der Bundesbank – gekauft werden. Da die Notenbanken sich bei der Auswahl der Papiere am bisherigen Verhalten der Finanzmärkte orientieren, werden große Unternehmen mit negativer Klimabilanz in den Portfolios begünstigt. Dahinter steckt die falsche Annahme, dass die Finanzmärkte neutral sind. Wir plädieren dafür, dass Zentralbanken ihre Programme neu ausrichten, um kohlenstoffintensive Finanzanlagen auszuschließen. Eine Alternative wäre auch ein exklusiv grünes Programm neben dem bestehenden.
Ein weiterer nicht ausgeschöpfter Katalysator für eine bessere Industriepolitik ist das öffentliche Auftragswesen. Hier verteilt Deutschland pro Jahr 500 Milliarden Euro. Das Vergaberecht würde es der öffentlichen Hand ermöglichen, strategische Ziele wie den Kampf gegen den Klimawandel in die Kriterien der Ausschreibungen einzubeziehen. In Wirklichkeit berücksichtigten aber nur 2,4 Prozent aller öffentlichen Aufträge, die etwa 2015 in Deutschland vergeben wurden, derartige Umweltkriterien. Während Deutschland auf Bundesebene ehrgeizige Ziele für die Dekarbonisierung formuliert hat, scheint dies auf der Ebene der Bundesländer und Kommunen nicht in gleichem Maße priorisiert zu werden. Hier wird jedoch der Großteil der Investitionen und öffentlichen Aufträge umgesetzt.
Die Märkte werden nicht von sich aus genügend grüne und gesellschaftlich fair wirkende Innovationen generieren. Umgekehrt wird es die Innovation eher bremsen, wenn die Regierung jetzt beginnt, ad hoc und im Einzelfall zu intervenieren. Es wäre wichtiger, dass sie eine Richtung vorgibt, diese mit eigenen Investitionen stützt – und jene privaten Investoren belohnt, die auf dieser Basis eigene Innovationen beisteuern. Dazu müssen Innovations-, Industrie-, Finanz- und Auftragspolitik auch stärker koordiniert werden und sich gegenseitig ergänzen.
Um solche Ziele vorgeben zu können, braucht es eine Strategie, in der gesellschaftliche Missionen wie einst die Mondlandung definiert werden – ein Konzept, das von der EU-Kommission in vielen Fällen bereits genutzt wird. Eine solche Mission soll dafür da sein, große gesellschaftliche Herausforderungen wie etwa den Kampf gegen den Klimawandel als Aufgabe festzulegen, so dass im Verlauf geprüft werden kann, welche Ziele erfüllt oder nicht erfüllt wurden. Politische Entscheidungsträger können dann strategische Investitionen definieren, die für die Mission nützlich sind, und industrielle Landschaften anlegen, die private Investoren ausfüllen und gestalten können. In solch einem Konzept könnte es auch obligatorisch werden zu prüfen, ob jede einzelne Maßnahme die Wirtschaft ungleicher macht oder nicht.
Die Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung umfasst bereits 12 Missionen, die jedoch hauptsächlich dazu dienen, bestehende Maßnahmen zwischen Ministerien zu koordinieren. Sie sind nicht darauf ausgelegt, mutige Neuinvestitionen zu ermöglichen.
Wie der Erfolg der deutschen Forscher von Biontech auf der Suche nach einem Impfstoff eindrucksvoll zeigt, gehört Deutschland nach wie vor zu den führenden Industrieländern der Welt. Eine neue Industriestrategie sollte dies in ihren Ambitionen spiegeln. Deutsche Verantwortungsträger sollten die Chance der globalen Pandemie nutzen und auf den jüngsten wirtschaftspolitischen Initiativen sowie rfolgreichen Institutionen wie der Förderbank KfW aufbauen. Es geht darum, eine mutige neue Industriestrategie zu entwickeln, die Wissenschaft, Technologie und Innovation sowie Finanz- und Auftragspolitik auf einen Nenner bringt. Geschichten zählen. Taten auch.
Mariana Mazzucato ist Gründerin und Direktorin des Institutefor Innovation and Public Purpose am University College London. Rainer Kattel ist dort Professor of Innovation and Public Governance.