NEUES LEITMOTIV
Ein neues Paradigma? Was die Deutschen wirklich wollen
Was eine repräsentative Forsa-Umfrage unter den Deutschen über den Rückhalt für das wirtschaftspolitsche Leitmotiv der vergangenen Jahrzehnte sagt — von Thomas Fricke.
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FORUM NEW ECONOMYVERÖFFENTLICHT
2. NOVEMBER 2019LESEDAUER
5 MINLange Zeit galten Amerikaner und Briten als Vorbild, wenn es in Deutschland darum ging, die Vorzüge freier Marktwirtschaft, des Rückzugs vom Staat oder sinkender uneingeschränkter Finanzmärkte darzulegen. Heute scheint das eher umgekehrt zu sein. Die Deutschen bekommen Schelte von Briten, Amerikanern und anderen, weil sie zu sehr an der schwarzen Null hängen, statt den Staat Geld ausgeben zu lassen; weil sie sich gegen Interventionen an den Finanzmärkten sträuben; oder weil es zu wenig Bewusstsein dafür gebe, wie stark die freie Marktwirtschaft Einkommen und Vermögen auseinanderdriften lässt.
Sind die Deutschen anders? Oder nur die, die in wirtschaftspolitischen Debatten den Ton angeben? Wir haben bei Forsa eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben, die erstaunliches zu Tage treten lässt. Den Ergebnissen zufolge hadern die Menschen im Land heute sehr viel mehr mit dem Rückzug des Staates und den Nebeneffekten der Globalisierung der Märkte, als es das Narrativ von den ordnungs- und stabilitätspolitisch so vorbildlichen Deutschen vermuten ließe. Ganz im internationalen Trend.
Wie die Umfrage ergab, finden knapp 80 Prozent, dass die Privatisierung öffentlicher Leistungen in den vergangenen Jahrzehnten „zu weit“ gegangen sei. Dass solche Leistungen weiter privatisiert werden sollten, sagen nur 6 Prozent der Befragten (siehe Grafik 1). Nur 21 Prozent hält es für gut, dass die Menschen im Land durch die Reformen der Agenda 2010 „zu mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge“ bewegt wurden – und der Staat entsprechende Leistungen dafür gekürzt hat. Für „schlecht“ halten das heute 74 Prozent (siehe Grafik 2). Mehr noch: dem einstigen Leitmotiv von Margaret Thatcher, dass es immer noch am besten ist, wenn jeder zuerst an sich selbst denkt, stimmen in Deutschland heute nur sechs Prozent noch zu.
Auch gaben 70 Prozent der Befragten an, dass ihrer Einschätzung nach das Treiben der Banken – einer der am stärksten marktwirtschaftlich globalisierten Bereiche der Wirtschaft – nur den Wohlstand von wenigen Menschen fördert. Eine knappe Mehrheit stimmt sogar der Aussage zu, dass das, was die Finanzwelt macht, die Situation für einen Großteil der Gesellschaft verschlechtert.
Die Ergebnisse sind auch aus einem anderen Blickwinkel höchst bemerkenswert.
Neuere Forschungsarbeiten von Ökonomen gehen der Frage nach, inwieweit der Aufstieg populistischer Kräfte im Ursprung mit sozio-ökonomischen Faktoren zu tun hat.
Dabei geht es weniger um absolute Einkommen. Die Unzufriedenheit fällt Schätzungen zufolge vielmehr mit einer gefühlten Unsicherheit, einem vermeintlichen oder tatsächlichen Kontrollverlust und mangelnder Anerkennung zusammen. Ziel der vorliegenden Umfrage war es, diese Vermutung durch eine repräsentative Erhebung zu überprüfen. Dafür befragte Forsa vom 9. bis 13. Oktober insgesamt 1009 Personen.
Die Ergebnisse scheinen die Vermutung zu bestätigen und könnten erklären, warum es auch in Deutschland so viel Unmut gibt – trotz langjährigen Wachstums der Wirtschaft, gesunkener Arbeitslosigkeit und der gängigen Diagnose von den erfolgreichen Agenda-Reformen.
Zwar äußern 67 Prozent die Zuversicht, dass in Deutschland „letztlich alle davon profitieren, wenn es der Wirtschaft gut geht“. Immerhin ein knappes Drittel zweifelt aber daran. Und: mehr als die Hälfte der Bundesbürger finden, dass das Risiko, sozial abzusteigen, heute größer sei, als es bei früheren Generationen der Fall war. Gut ein Viertel stuft die Gefahr sogar als „sehr viel größer“ ein (siehe Grafik 3). Und: fast zwei Drittel äußern die Erwartung, dass das Risiko künftig „eher“ noch weiter steigen wird. Weitere knapp 20 Prozent rechnen sogar damit, dass die Gefahr „stark steigt“.
Fast jeder zweite Befragte stimmt der Aussage „voll und ganz zu“, dass die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland „zunehmend zu einem Problem für den Zusammenhalt der Bevölkerung“ wird. Weitere 38 Prozent gaben an, dem „eher“ zuzustimmen. Dass das Gefälle zwischen Reich und Arm „überhaupt kein“ Problem darstellt, sagt gerade einmal ein Prozent (siehe Grafik 4). Auch das passt nicht so recht zu dem langjährigen Befund etwa des Sachverständigenrats, wonach die Ungleichheit in Deutschland kein wirkliches Problem ist. Zumindest die Wahrnehmung der Menschen ist eine andere. Und die Daten scheinen jüngeren Forschungen zufolge auch eher darauf hinzudeuten, dass die Leute damit nicht ganz falsch liegen.
Dabei spielt offenbar auch eine Rolle, dass dieser Trend zu gestiegener Ungleichheit nicht als wirtschaftlich nachvollziehbar eingeschätzt wird. Nur 32 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, wonach jemand, der in Deutschland sehr reich ist, diesen Reichtum „in aller Regel auch verdient“ hat. Dass dies nicht der Fall sei, äußern zwei von drei Deutschen.
Nur jeder Dritte findet umgekehrt, dass jemand, der in Deutschland sehr reich ist, diesen Reichtum „in aller Regel auch verdient“.
Bemerkenswert erscheint auch, dass in einem so stark vom Export lebenden Land wie Deutschland nur knapp mehr als die Hälfte (51 Prozent) der Menschen finden, sie würden „persönlich“ mehr Vor- als Nachteile durch die Globalisierung haben. Nur 28 Prozent der Befragten sagen, dass die Globalisierung von Wirtschaft und Finanzen weiter vorangetrieben werden sollte.
All das deutet auf mehr als nur ein paar flüchtige Zweifel daran hin, wie es um die wirtschaftlichen Verhältnisse bestellt ist. Und es lässt tiefe Skepsis an jedem Paradigma erkennen, das über viele Jahre die Wirtschaftspolitik bestimmt hat – seit den Zeiten, in denen Amerikaner (Reagan) und Briten als Vorhut des neuen marktwirtschaftlichen Ideals galten. Was die Menschen in der Umfrage erkennen lassen, spricht dafür, dringend ein neues und bessere Paradigma zu suchen und zu entwickeln, das sehr viel besser geeignet ist, die negativen Begleiteffekte der Globalisierung zu beheben oder das Auseinanderdriften von Einkommen und Vermögen umzukehren.
Von den Befragten hielten es 80 Prozent für richtig, dass die Regierung Menschen stärker schützen sollte, wenn durch die Folgen von Digitalisierung oder Globalisierung „in größerem Umfang Arbeitsplatzverluste drohen“. Die Zustimmung zu steigenden staatlichen Investitionen in Klimaschutz, moderne Schulen und Universitäten, die Bahn und ähnliche Infrastruktur liegt bei 87 Prozent. Immerhin 67 Prozent stimmen der Aussage zu, Politiker sollten angesichts der fortgeschrittenen Globalisierung „wieder mehr Einfluss auf die nationale Gesetzgebung bekommen“.