NEUES LEITMOTIV

Short Cut Re-Live: Fortschritt – ja, aber was ist das? mit Petra Pinzler und Stefan Kolev

Was bedeutet Fortschritt im Rahmen planetarer Grenzen? Darüber diskutierten wir mit Petra Pinzler und Stefan Kolev.

VON

MAREN BUCHHOLTZ

VERÖFFENTLICHT

6. SEPTEMBER 2024

LESEDAUER

2 MIN

Als „Fortschrittskoalition“ ist die Bundesregierung 2021 angetreten, die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Erneuerung zu stellen. Was folgte, ist eher Durcheinander. Was auch daran liegen könnte, dass nicht alle die gleiche Idee davon haben, was Fortschritt bedeutet – eher klassisch das Steigern von Produktivität? Oder etwas ganz anderes?

Darüber sprachen wir mit Petra Pinzler (Die Zeit), die sich mit der Frage in ihrem kürzlich erschienenen Buch “Hat das Zukunft oder kann das weg? Ein Fortschrittskompass” beschäftigt hat. Mit Stefan Kolev (Ludwig-Erhard-Forum) diskutierte sie, wie Staat und Markt zusammenwirken können, um eine lebenswerte Zukunft für kommende Generationen zu gestalten.

 

Erstmals versuchte eine Koalition auf Bundesebene sich auf einen Fortschrittsbegriff zu einigen, der gleichzeitig mehr individuelle Freiheit, weniger soziale Ungleichheit und mehr Klimaschutz miteinander vereinbaren sollte. Trotz dieser ideologischen Unterschiede hat die Ampel auf der reinen Arbeitsebene tatsächlich vieles erreicht. Die Halbzeitbilanz der Legislaturperiode fällt laut einer Bertelsmann-Studie nicht schlecht aus: demnach waren bis Ende 2023 knapp 40 % der Koalitionsversprechen eingelöst und weitere 25% wurden zumindest begonnen. Noch dazu in einer krisengeschüttelten Zeit.

Warum also schwindet das Politikvertrauen und warum verfangen die einfachen Antworten der Rechtspopulisten?

Petra Pinzler findet, dass dies mit Zukunftsängsten zusammenhängt – mit der Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg oder vor einer weiter eskalierenden Klimakrise. Die Deutschen schauen aktuell mehrheitlich pessimistisch auf die Zukunft des Landes. Zudem ist empirisch belegt, dass sich unterprivilegierte Gruppen von der Politik häufig nicht repräsentiert und nicht gehört fühlen.

Sie schlägt vor, sowohl im politischen Raum als auch im Privaten mehr über die Zukunft des Landes zu diskutieren und dabei die eigene Vorstellungskraft herauszufordern. „Den Utopiemuskel trainieren“ nennt sie dies in ihrem neuen Buch. Darin zeichnet sie eine positive Vision, wie Bürger, Politik und Wirtschaft eine lebenswerte Zukunft innerhalb planetarer Grenzen gestalten können. Mehr politische Teilhabe, besonders für ärmere Bürger, könne dazu beitragen, das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen.

Besonders seien aber die Parteien gefragt, die Spannungen zwischen dem Gerechtigkeits- und Freiheitsbegriff nicht nur auszuhalten, sondern daraus eine neue Erzählung zu schaffen. Um den Menschen die Zukunftsängste zu nehmen, seien neue Narrative dringend nötig:

„Aus der Transformation ist keine gute Geschichte einer fairen Modernisierung geworden.“ konstatiert Pinzler in einem kürzlich erschienen Artikel.

Sie rät, abseits der Tages- und Parteipolitik offener in den Dialog über Zukunftsfragen einzutreten. Ein Fortschrittsbegriff im 21. Jahrhundert müsse, so Pinzler, zwingend auf die planetaren Grenzen und das Wohl kommender Generationen bezogen sein. Über Fortschritt nachzudenken, sei dann keine bloße Träumerei, sondern Anwendung des ökonomischen Prinzips, knappe Ressourcen möglichst sinnvoll einzusetzen.

Den von Pinzler diskutierten Politikmaßnahmen konnte Stefan Kolev in einigen Aspekten zustimmen, wie etwa beim marktwirtschaftlichen Klimaschutz, sprach sich zugleich aber für mehr Techno-Optimismus aus und befand, dass nicht der Staat die Richtung der Innovation vorgeben solle, sondern dass der Einzelne in der Suche nach neuen Lösungen oft effizienter sei. Dagegen betonte Petra Pinzler die Dringlichkeit des staatlichen Handelns in der Klimakrise. Durch endliche Ressourcen und die Zeitfrage bei der Erderwärmung sei Fortschritt unabdingbar – daher gelte es, sich den schwierigen Fragen zu stellen.

Die Diskussion hier nachträglich ansehen:

ZUM THEMA NEUES LEITMOTIV

KNOWLEDGE BASE

Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

ÜBERSICHT ARTIKEL